Sagenstark. Neue Sagen aus der Schweiz. Der Uniformierte

Der Uniformierte

In der Nähe von Grandson liegt am Neuenburgersee ein Campingplatz, von dem man sich merkwürdige Geschichten erzählt. Ich fuhr einst in die Gegend und erreichte den Campingplatz am Abend nach einer heissen Radtour. Man wies mir einen Platz direkt am Ufer des Sees zu, wo ich das kleine Zelt aufbaute, ein Bad nahm und mich bald zur Ruhe legte.
In der Nacht erwachte ich nervös. Ich löste den Reissverschluss. Sofort drang kühle, frische Luft herein, ein Sterneisfächeln, das über dem See lag. Ich schlüpfte aus dem Zelt. Das Gras war feucht, Wasserperlen drangen zwischen die Zehen, hüpften auf die Füsse und liefen über die Haut.
Aus den anderen Zelten stieg gleichmässiges Menschenatmen, dazu flüsterte es aus dem nahen Schilfgürtel. Der See war still. Mein Blick glitt über die Wasseroberfläche und blieb an einem Mann hängen, der etwa 100 Meter vom Ufer entfernt aufrecht auf dem Wasser stand. Sein Gesicht konnte ich nicht erkennen, aber er schwankte leicht hin und her, und er hatte keine Arme.
Dann näherte sich ein Ruderboot und kam neben dem Mann zum Halten. Dieser stieg unter Ruderklappern und Knarzen ins Boot, danach schöpften die Ruder erneut durch das Wasser, und das Boot verschwand.

Am nächsten Morgen tauchte ein baumlanger Uniformierter vor dem Zelt auf.
Guten Morgen, sagte ich.
Sie müssen hier weg, sagte er. Kommen Sie! Das Zelt lassen Sie hier. Sie fahren in meinem Wagen.
Erst jetzt fiel mir auf, dass auf dem Campingplatz lähmende Stille herrschte, keine Rufe, keine laufenden Schritte zwischen den Zelten, kein Gezeter von den Spültrögen, keine Musik vom Restaurant, kein Rauschen von den Duschkabinen, nicht einmal Vogelstimmen aus dem Waldstück waren zu hören. Der Uniformierte zog mich am Arm mit sich, ich stolperte ihm durch die Wiese hinterher.
Halt! Was ist mit meinen Sachen?
Er schüttelte den Kopf, wir müssen weg, so schnell wie möglich, sagte er. Was haben Sie hier so lange gemacht?

Er hastete zum Eingang, wo der Campingplatzleiter auf der Einfahrt lag, dann am Butangasdepot entlang bis zum Parkplatz. Ich blickte erschrocken über die Schulter zurück. Was ist passiert?
Steigen Sie ein! befahl der Uniformierte und öffnete einen massigen Wagen mit abgedunkelten Scheiben. Ich setzte mich auf den Rücksitz und schloss die schwere Tür. Der Uniformierte schlug seine Schuhe an den Rand des Wagens, um die Sohlen auszuklopfen, dann schwang er die langen Beine herein und drehte sofort den Zündschlüssel. Sein Blick im Rückspiegel betrachtete mich missbilligend.
Sie sind der Letzte. Ich bringe Sie in Sicherheit. Aber das Fenster bleibt geschlossen.
Dann steuerte er den Wagen über den staubigen Feldweg bis zur Hauptstrasse und von da zur Autobahn, die so ausgestorben war wie die Dörfer und die Stadt, die wir durchquert hatten. Die Tachometernadel verharrte stur auf 120.
Plötzlich fluchte er, riss das Steuer nach links und streifte seitlich die Leitplanke, was durch den Wagen dröhnte. Auf der Fahrbahn lagen hunderte von Kleidern, die vereinzelt vom Wind bewegt wurden und wie lebendig aussahen. Es rumpelte. Danach fuhr der schwere Wagen hämmernd und prasselnd durch ein buntes Meer von Schuhen. Ich hielt mir die Ohren zu und schloss die Augen.

Nach drei Stunden hielt er am Rand einer Blocksiedlung. Die Balkone blickten stumm auf eine Wiese. Bin gleich zurück, sagte der Uniformierte und strebte einem Wohnblock zu. Ich stieg aus. Der Rücken schmerzte, die Beine waren eingeschlafen und kribbelten, sobald ich das Gewicht verlagerte. Ich schaute mich um. Im fünften Stock öffnete und schloss sich eine verglaste Türe im Wind, sonst nichts.
Dann hörte ich hinter mir Stimmen.
Ich sah eine Mutter mit einem Dreirad unter dem Arm, die mit ihren beiden Kindern auf dem Heimweg unterwegs war. Das grössere Kind trug einen blauen Hut und eine Kindergartenumhängetasche, und es sang mit heller Stimme ein Lied, begleitet von der Mutter. Etwas weiter hinten balancierte das kleinere Kind sorgfältig auf dem Rinnstein zwischen Wiese und Strasse. Es hatte einen kahlen Kopf, mit Ausnahme vereinzelter Haare, die im Sonnenlicht glänzten. Es sang mit dem Bruder und der Mutter, ein leichtes, wiegendes Lied, das tröstlich klang.

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Sagenstark. Neue Sagen aus der Schweiz. Der Teufel im Dorf

Der Teufel im Dorf

Auf der Furkastrasse vor dem Dorfladen in Fiesch war lange Zeit eine scharfkantig ausgebrochene Stelle im Asphalt, so eine Art Wunde, ein aufgeschürftes Stück Strasse, über dessen Entstehung sich die Kunden beim Verlassen des Ladens keine Gedanken machten. Nur die Wenigsten wussten, was viele Jahre zurück an jener Stelle geschehen war, zu Zeiten als Frau Humbodel Chefin des Ladens war und über der Tür drei Glocken hingen.
Beim Betreten klingelten die Glocken, dann war man in ihrem Reich, unter ihrem scharfen Blick. Es war blitzsauber, und sie behandelte die Kundschaft korrekt, da konnte man überhaupt nichts beanstanden.

Eines Morgens jedoch war ein muffig riechender Kunde in ihren Laden getreten, der sich nach hinten zu den Bieren und den Weinen verdrückte und dort Etiketten anfasste und Aktionsschilder herunterriss. Frau Humbodel wusste sofort, dass dies der Leibhaftige war, denn die Neonröhren bei den Tiefkühltruhen begannen zu flackern und das Kleingeld in der Kasse klimperte. Frau Humbodels Herz schlug schneller.

Der Teufel war derweil zum Gestell mit den Gewürzen geschlurft. Dort klaubte er ein Gläschen Pfeffer aus dem Gestell, schraubte den Deckel ab und schüttete den ganzen Inhalt auf den Boden. Danach entschraubte der Kerl nacheinander Küchenkräuter-, Knoblauch- und Chilipulverfläschchen und verschüttete alles, bis Frau Humbodel der Kragen platzte: «He, Sie!»

Der Satan tat, wie wenn ihn dies nichts anginge. Er stahl sich zu den Vanillecremedosen, befingerte die Milchschokoladetafeln und blieb bei den Eierkartons stehen. «Nein, die fasst er mir nicht an», dachte die Ladenführerin, die sein Treiben im Deckenspiegel beobachtet hatte. Aber schon hatte der Bockfüssige seine behaarte Klaue zwischen die Kartons geschoben, und etwa zehn davon mit einem kräftigen Ruck heruntergeschlagen.

«So, jetzt aber raus!», sagte Frau Humbodel, «oder ich hole die Polizei.»

Der Gehörnte grinste frech und trollte sich dann in Richtung Kasse, wo er einen blitzschnellen Griff in die Kaugummis tat, kräftig zulangte, zum Ausgang sprang, die Tür aufriss und unter Glockenklingeln auf die Strasse lief.

Nach einem Augenblick der Überraschung kam Bewegung in Frau Humbodel. «Der soll mich kennenlernen!» stiess sie hervor und setzte ihm nach. «Halt!» donnerte ihre Stimme auf der Furkastrasse, sodass Passanten den Kopf wandten, «das ist der Beelzebub!»

Dieser lief quer über die Strasse, wo er einem Opel direkt vor den Kühler geriet. Es krachte. Den Leibhaftigen schleuderte es zu Boden, die Kaugummis flogen wie tote Falter durch die Luft und regneten neben ihm zu Boden. «Jesses Gott!» sagte eine Passantin, die Hand vor dem Mund. Dies löste im Körper des Teufels ein Zucken aus, er wand sich und hämmerte mit den Fäusten auf den Asphalt. Dieser riss auf, verschluckte den Satan und schloss sich mit einem gewaltigen Knall.
Nur dort, wo ein bisschen Teufelsblut sich in den Asphalt gefressen hatte, blieb jene aufgebrochene Stelle zurück.

Frau Humbodel schüttelte den Kopf und stapfte in ihren Laden zurück, wo sie noch weitere 37 Jahre arbeitete. Der Leibhaftige zeigte sich nicht mehr bei ihr. Wenn sie aber von der Kundschaft auf die Begegnung angesprochen wurde, sagte sie stets: «Es gibt schon freche Siechen!»

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Sagenstark, Neue Sagen von den Sagenstarken. Zugdurchfahrt

Am Bahnhof Rheinfelden

Ein Xylophon-Doppelklang fliegt über das Perron.

Aus versteckten Lautsprecherboxen spricht eine freundliche Männerstimme:
Vorsicht. Zugdurchfahrt. Gleis drei.

Sie klingt sanft
und gleichzeitig alarmierend
als wäre dies ein Aufruf an alle Wartenden auf dem Perron
als hätten sie noch Zeit, sich in Sicherheit zu bringen.

Neben dem Perron liegt das Gleisbett
und die Schienen laufen aufeinander zu
bis zu jenem Punkt
woher der Zug nahen soll
wo Luftschwaden flirren.

Die Lokomotive wird sichtbar
ihre drei Lichter
werden rasch grösser
wachsen schnell
die Schienen zischeln
daraus wird ein gefährliches Singen
ein quälender, hoher Ton, der durch die Schienen dringt und sich in ein Donnern verwandelt.

Die Lokomotive stürmt wie ein Schlägertrupp heran
brausend, höllisch laut und gross
rast durch den Bahnhof
und zieht Güterwaggons und Erdöltanks und Aluminiumcontainer hinter sich her
die toben und quietschen und gellen und donnern und rumpeln
und im Zwischenraum zwischen zwei Waggons
erschreckend
eine Zehntelsekunde nur sichtbar
ist ein Mensch
der rittlings auf einem Puffer sitzt
beide Arme zum Jubel hochreckt
eine spitze Nase und Zahnlücken
und ein wildes Lachen hat
und sich die Seele aus dem Leib kreischt.

Schon donnern weitere Waggons vorüber
bis fauchend der Letzte heranbraust und den anderen nachhetzt
danach stösst der Wind Metallgeruch, Staub und alte Blätter über das Perron.

Das Scheppern verliert sich
verrieselt im eigenen Echo
und die Wartenden blicken vor sich hin
glätten ihre Haare
als wäre nichts gewesen.

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Sagenstark | Neue Sagen aus der Schweiz. Das Häxli

Das Häxli

Der Frühling kommt näher. Ich erinnere mich, in meiner Primarschulzeit gab es ein Mädchen, dem wir Häxli sagten, weil es so verwachsene und wilde Haare hatte und weil es blitzgescheit war. Seine Augen hatten unterschiedliche Farben, das linke war grün, das rechte grau.

Im Turnunterricht spielten wir oft Bändelfangen, und einmal blieben nur das Häxli und ich übrig, alle anderen hatte es erwischt. Nun jagten sie uns erbittert, versuchten uns einzukreisen oder in eine Ecke zu treiben. Das Häxli fegte wie ein Wirbelwind durch die Turnhalle, man wurde fast schwindlig. Es konnte solche Haken schlagen, dass man mit den Augen nicht mehr nachkam.

In der Aufregung prallten wir zusammen, und ich spürte seinen Arm auf meinem Arm. Einen Augenblick lang klebten wir aneinander, hielten inne, gleich darauf stob das Häxli wieder davon. Auf der Haut meines Armes glänzte der Schweiss vom Häxli. Ich wischte ihn mit den Fingerspitzen auf und roch daran. Es duftete süss, nach Kräutern oder Wurzeln, nach Erde, irgendwie nach Frühling. Auf der Zunge hinterliess er ein scharfes, salziges Kribbeln.

Man hatte mich erwischt. So lief ich mit dem Rest der Klasse dem Häxli hinterher, um es einzufangen. Es surrte jedoch so lange weiter, bis die Lehrerin lachend rief, es sei genug, fertig!,  das Häxli habe gewonnen.

Von jenem Tag an versuchte ich, so oft wie möglich in seiner Nähe zu sein, mit ihm Dinge zu besprechen oder auf dem Schulweg mit ihm dem Mäuerchen entlang zu laufen. Ich läutete an seiner Haustür, obschon mir verboten war, bis zu den Häusern hinter den Bahngleisen zu gehen. Das Häxli war mir immer einen Schritt voraus. Wenn ich ankam, war es meist weg, wenn ich mich setzte, stand es auf, wenn ich eine Frage hatte, kannte es die Antwort.

Es sagte häufig, ich sei ein Tollpatsch!, und ich gab zurück, es sei eine Hexe! Die meisten meiner kleinen Geschenke nahm es trotzdem an.

Ich wusste, dass das Häxli während der Frühlingsferien wegziehen würde. Ich wäre gerne da gewesen, um ihm Lebewohl zu sagen. Meine Eltern schickten mich jedoch wie immer zu meiner Cousine nach Thun für zwei Wochen, wo ich zwei abwechslungsreiche Wochen verbrachte, es war immer viel los, nur abends spürte ich ein schmerzendes Ziehen in der Brust, wenn ich an das Häxli dachte.
Danach war es verschwunden.

Ganz selten, vielleicht einmal im Jahr im Frühling, wenn es am Vorabend getröpfelt hat und am frühen Morgen die Sonne scheint, wenn ein leichter Wind über den gewärmten Boden und durch wartende Büsche fliesst, dann kann es sein, dass plötzlich eine Erinnerung an das Häxli zu mir weht, als wäre es plötzlich ganz nah.

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Sagenstark. Neue Sagen aus der Schweiz. Schräubchen

Schabernack

Kaum bin ich in der neuen Wohnung in Lausanne eingezogen, mache ich im Treppenhaus Bekanntschaft mit der Nachbarin vom oberen Stock, Frau Ducret. Ob ich kurz vorbeikommen könne, sie brauche Hilfe wegen einer Lampe.

In ihrer Küche serviert sie erstmal ein Gläschen Grappa.
Wissen Sie, ich habe einen Hausgeist. Ab und zu lässt er sich hören, wenn er im Küchenregal sitzt. Manchmal pfeift er leise. Oder knackt mit den Fingern.
Ich sage, nein, das sind Temperaturveränderungen im Material. Ganz klar. Das kennt man ja von den Holztäfelungen oder dem Dachgebälk in Ferienhäusern.
Sie winkt mich zu ihrer Küchenkombination. Sauber glänzende Chromstahlabdeckung, darüber eine Reihe von Hochschränken und ein Küchenregal für Kochbücher. Drei Unterlichter werfen grellweisses Halogenlicht auf die Abdeckung. Eines davon erlischt für einige Sekunden.
Sehen Sie!, sagt Frau Ducret.
Da müsste man halt mal… murmle ich und lege den Kopf schief unter die Schränke. Wackelkontakt, kein Problem. Haben Sie einen Schraubenzieher?

Ich entferne das Deckelchen des Unterlichtes und wiege es wie einen Kristall in der Handfläche. Daneben lege ich die Birne und zwei winzige Schräubchen.
Ich bestelle Ihnen eine neue Leuchte, Frau Ducret. Doch, ich mach‘ das.
Mir wäre lieber, Sie lassen alles hier, sagt sie. Nicht, dass ich ihn noch ärgere.
Ich blicke die Nachbarin an.
Wissen Sie, er legt mir die Leuchte oft auf die Abdeckung. Schabernack, nenne ich das, ein kleines Spiel. Ich schraube sie dann einfach wieder fest.

Ich verabschiede mich und verlasse die Wohnung. Zuhause kommt die defekte Leuchte zur Werkzeugkiste in den Putzschrank. Dann hefte ich ein Zettelchen an die Wohnungstür: «Ducret, Licht bestellen».
In der Nacht erwache ich von Geräuschen aus dem Wohnzimmer. Zuerst ist es nur ein Schlurfen. Kurz darauf klopft es deutlich. Es poltert und kracht, ein wütendes Grollen braust durch die Wohnung, und dumpfe Schläge lassen die Wände erzittern. Ich sitze in Todesangst auf dem Bett, wage mich nicht zu rühren. Erst Stunden später, als es längst hell geworden ist, öffne ich vorsichtig die Schlafzimmertür.
Mich fröstelt.
Die Fenster sind eingeschlagen, der Teppich ist zerrupft und mit Scherben übersät. Ich sehe verkratzte Wände, eine verbogene Stehlampe, mein aufgeschlitztes Sofa liegt umgeworfen quer im Raum, seine Füllung ist wie Hühnerfedern in der ganzen Wohnung verteilt. Die Werkzeugkiste ist flachgedrückt um einen Türrahmen gebogen.

In diesem Moment läutet es.
Wer ist da?, frage ich vorsichtig.
Ich öffne die Tür. Frau Ducret sieht mein Gesicht, ihr entfährt ein Oi!
Sie nimmt die Verwüstung hinter mir wahr, schüttelt fassungslos den Kopf. Dann öffnet sie die Hand.
Sehen Sie sich das an: Das lag heute Morgen bei mir auf der Abdeckung.
Die Leuchte!
Das Deckelchen glitzert, die Schräubchen und die Birne glänzen silbern.

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Ähnliche Sage:
«Der Ball des Toten»

Sagenstark. Neue Sagen aus der Schweiz. Die Abmachung. Kirche von Küblis versinkt in der Landquart

Die Abmachung


Zu Zeiten des Zehngerichtebundes lebte in Küblis der Zimmermann Johann Gaudenz Stocker. Einst war er vor dem Morgengrauen unterwegs nach Conters, als er einen Schrei vernahm. Er eilte zurück zur Brücke über die Landquart. Aus dem verschneiten Flussbett rief ein Mann um Hilfe. Johann Stocker stürzte das steile Bord hinunter und sprang ins Eiswasser, das seinen Leib wie Feuer umfasste.
«Wo bist du?», rief er und watete suchend zwischen den Felsblöcken, bis er den besinnungslosen Mann unter der Brücke entdeckte. Er zerrte ihn aus dem Wasser, hob und stiess ihn das Bord hinauf und trug den Fremden so rasch er konnte ins Dorf zurück.

In der Nacht erschien ihm der Fremde im Traum und sagte: «Ich komme wie du aus Küblis. Wir sind Nachbarn. Aber ich bin arm und kann dir deine Hilfe nicht so entgelten, wie du es verdienst. Ich kann dir jedoch auf eine andere Weise nützlich sein. Warte jeden Morgen, bis ich an deinem Haus vorbeigegangen bin. Dann wirst du Glück haben. Was immer du tust oder was du geschehen lässt, es wird zu deinem Guten sein. Vergiss nie: Verlasse dein Haus erst dann, wenn du mich gesehen hast.»

Drei Jahre lang wartete Johann Stocker jeden Morgen, bis der Fremde an seinem Haus vorübergegangen war. Erst dann ging er seinem Tagwerk nach. Dabei fand er ein gutes Auskommen, blieb gesund und kräftig, besass eine stets gefüllte Vorratskammer, ja, er konnte sich sogar einen zweiten Rock und ein Paar Stiefel kaufen.

Im Sommer des vierten Jahres wurde das Prättigau überfallen von einem Dauerregen, wie ihn noch niemand je erlebt hatte. Es war, als würde die Sintflut zurückkehren. Nach Mitternacht hörte Johann Stocker Rufe vor seinem Haus: «Die Flut kommt! Komm und hilf uns, wir verstärken die Dämme!»

Ein furchtbares Rauschen und Prasseln dröhnte. Johann Stocker zögerte. Der Fremde würde erst im Morgengrauen an seinem Haus vorbeigehen. Sollte er solange warten?
Erneut schlugen Fäuste an seine Tür. «Mach schnell, hilf uns! Die Flut kommt! Die Flut kommt!»
Schliesslich sprang er auf und lief mit Werkzeug und einem Seil zum Fluss, der wütend in seinem zu eng gewordenen Bett polterte. Die Leute aus dem Dorf schafften Möbel und Gerätschaften aus jenen Häusern, die dem Fluss am nächsten waren. Jemand zerrte Ziegen aus einem Stall. Vom oberen Dorfteil her rannten drei Schweine durch das knöcheltiefe Schlammwasser.
Dann zitterte der Boden. Johann Stocker starrte auf eine grässliche, schwarze Wasserwalze. Wilde Angst überkam ihn und er lief um sein Leben. Überall hörte er Schreie von solchen, die das Geröll mitriss.
Er schaffte es bis zur Anhöhe jenseits des Dorfes. Die Sturmglocke war verstummt. Die Landquart hatte das Dorf erobert. Er sah, wie sein eigenes Haus in der Mitte auseinandergerissen und wie das Dach des abgetrennten Teils einem Floss gleich davongetrieben wurde.

Johann Stocker fand bei Leuten aus Saas Unterschlupf. In der nächsten Nacht erschien ihm erneut der Fremde im Traum und sagte: «Nun habe auch ich dich vor dem Ertrinken gerettet. Aber du hast dein Haus verlassen, ohne auf mich gewartet zu haben. Da du dich nicht an die Abmachung gehalten hast, werde ich nicht mehr für dich da sein.»
Von jenem Moment an sah Johann Stocker den Fremden nie wieder.

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Sagenstark. Besuch von der Wandfrau

Besuch von der Wandfrau

Nach der Beerdigung von Renatas Vater blieben wir etwas länger im «Wyssen Rössli» von Schwyz sitzen. Die übrige Trauergesellschaft war aufgebrochen. Manchmal zitterten Renatas Lippen, wenn sie von ihrem Vater erzählte. Sie hatte ihn gern gehabt.
Ihr Vater hatte in einem Haus oberhalb von Rickenbach unter der Wand des Gross Mythen gewohnt. Er hatte beträchtliches Werkzeug und Baumaterial in seiner Werkstatt und im Anbau angesammelt, genug, um ein ganzes Dorf auszurüsten. Aber nie hatte er etwas davon einem Nachbarn ausgeliehen. Er war zu sehr Einzelgänger.

Abends besuchte ihn manchmal die Wandfrau, eine grosse, hagere Frau, von der es hiess, sie wache darüber, dass der Gross Mythen weder Steine noch Felsen abstürzen lasse. Er machte ihr seine Kartoffeln mit Spiegeleiern, und sie sass am Küchentisch und schaute ihm dabei zu. Nach dem Essen tranken sie Tee und redeten bis in die Nacht hinein.
Immer bevor es Mitternacht schlug, erhob sie sich und sagte:

«Für mich ist es Zeit. Wann ist es Zeit für dich?»

Er schüttelte jedes Mal den Kopf und begleitete sie bis zur Tür. Dann stieg die Wandfrau die steile Wiese zum Waldrand hinauf und verschwand.

Anfang November stürzte der Vater unglücklich. Man brachte ihn ins Spital, für eine kleine Operation nur, aber danach liess ihn eine Infektion rasch schwächer werden. Renata war besorgt. Von Mal zu Mal schien seine Haut dünner.
An einem besonders nebligen Abend sass sie wieder neben seinem Bett, und sie sprach mit ihm über Familienfeiern, über sein Haus und den Garten, über die gemeinsamen Bergwanderungen, aber bald verlor sie den Faden und schwieg. Der Vater hatte die Augen geschlossen und döste.
Plötzlich ging die Türe auf. Eine grosse Frau kam herein. Ihr Haar war streng nach hinten gekämmt. Ohne von Renata Notiz zu nehmen, trat sie an das Bett, neigte sich herunter und betrachtete das Gesicht des Vaters.

«Für dich ist es jetzt Zeit», flüsterte sie.

Danach wandte sie sich um und ging zielgerichtet aus dem Krankenzimmer, dessen Tür sich mit einem leichten Seufzer hinter ihr schloss. Als Renata sich verwundert nach ihrem Vater umsah, war er gestorben.

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Siehe auch: «Die Biberfrau»

Sagenstark. Der Schatz

Der Schatz

Ich stapfe durch den verwilderten Garten auf Wobmanns Haus zu. Ich soll Wobmann im Auftrag der Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde einen Besuch abstatten. Eine Nachbarin sorgt sich um ihn.
Der Lack auf der Wohnungstür blättert ab. Aus dem Briefkastenschlitz hängen nasse Zeitschriften. Der Schuhabstreifer hat dunkle Flecken.
Wobmann macht auf, starrt mich an. «Was für ein blöder Kerl sind Sie?»
Ich antworte: «Herr Wobmann! Wir haben miteinander telefoniert! Schon vergessen?»
Er presst die Lippen zusammen. Seine Haut ist grau, von scharfen, schmalen Furchen durchzogen. Aus dem Kinn ragen einzelne Barthaare.
Die Wohnung riecht abgestanden
«Lassen Sie mich rein?» frage ich.
«Aber Schuhe aus!» sagt er.

Im Korridor stapeln sich kniehoch alte Zeitungen, Plastiksäcke, Kartonverpackungen, Flaschen. Ich bücke mich und beginne, alles in mitgebrachte Abfallsäcke zu schaufeln. Wobmann beobachtet mich brummend, lässt mich jedoch gewähren. Das Wohnzimmer sieht schlimmer aus. Ich fülle Sack um Sack und stelle jeden vor die Tür.
«Verdammt, Sie räumen mir die Wohnung aus!», protestiert er.
«Helfen Sie mir lieber», sage ich und drücke ihm einen Abfallsack in die Hand, «halten Sie fest, ich schaufle.»

Plötzlich halte ich inne. Auf dem obersten Tablar der Wohnwand, hinter einer Glasscheibe, liegt ein grosser Stoffbeutel. Was das sei, frage ich ihn. Er zuckt mit den Schultern.
Der Beutel aus weissem Leinen wiegt schwer. Ich löse ein Stoffband und blicke hinein.
«Das gibt’s doch nicht!» entfährt es mir. Im Inneren liegen Münzen, Hunderte von Münzen! Ich zeige sie ihm: «Ich habe Geld gefunden, Herr Wobmann!»
Wieder zuckt er mit den Schultern.

Nach einer halben Stunde habe ich unter einem Sofakissen, im Inneren des Sekretärs und auf der Vorhangschiene weitere Stoffbeutel entdeckt. Schliesslich durchforste ich die ganze Wohnung, Schlafzimmer, Küche, Medikamentenschrank, Loggia, ja sogar den Tiefkühler. Überall hat er sein Geld deponiert. Zuletzt fördere ich unter der Spüle eine Schuhschachtel zutage. Sie ist gefüllt mit Bündeln von Banknoten, die mit Gummibändern zusammengehalten sind.
Ich pfeife durch die Zähne. Wobmann blickt in die Schachtel, dann über die mehreren Dutzend Stoffbeutel.
«Ist das mein Geld?» fragt er.
«Wo ist Ihr Reisekoffer?» sage ich.

Ich bringe ihm seine abgenutzte Jacke, und ich setze Wobmann in meinen Wagen. Danach hole ich aus dem Haus einen Lederkoffer, der von einem Schnallenverschluss zusammengehalten wird. Er ist so schwer, dass ich ihn kaum tragen kann. Ich wuchte ihn auf den Rücksitz.
«Jetzt machen wir einen Geldtransport», sage ich gut gelaunt.

Auf der Fahrt ins Zentrum ist mir, als würde Wobmann grinsen. Hinter der Bankfiliale parke ich. Wir steigen aus und schleppen den Koffer zu zweit in den Empfangsraum. Dort meint man mit besorgtem Blick, der Herr Huber komme sogleich, ob wir solange Platz nehmen möchten. Wir setzen uns in rote Ledersessel, Wobmann links, ich rechts, und zwischen uns wartet der Koffer.
Eine Weile schweigen wir.
Dann neigt sich Wobmann zu mir und sagt: «Ich bin stinkreich! Ich könnte diesen Sessel kaufen!»
«Sie könnten diese Bank kaufen!»
Wir müssen so lachen, dass es uns schüttelt.

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Sagenstark. Die Mutprobe

Die Mutprobe

Nein, der Tobi hat als Bub jede Wette verloren. Also wirklich jede!
Und es war auch sonnenklar, wer die Wetten immer gewann.
Kirschkernspucken? – Ich, mit Abstand!
Luft anhalten? – Ich.
Freihändig velofahren? (Also mit verschränkten Armen!) – Ich.
Ausser, wenn wir kämpften, gewann manchmal er, oder eigentlich immer er, aber das gilt nicht. Das zählt ja nicht als Wette.

Der Tobi wohnte wie ich in Waldhaus und ging nach Lützelflüh zur Schule. Und immer im Herbst fuhren wir mit dem Velo den Umweg nach Ramsei. Denn dann wurden vom ganzen Emmental die Äpfel in Bahnwaggons zum Ramseier geliefert, um Most zu machen. Der Tobi und ich, wir fuhren dann hin und stibitzten heimlich einen Apfel.
Also ich immer zuerst, der Tobi erst danach, der Schisshaas.

Genau das hat mich einmal wütend gemacht. So wütend! Ich sagte: Tobi, du bist ein Schisshaas. Du traust dich überhaupt rein gar nichts. Du bist der allergrösste Riesenschisshaas der Welt, das bist du!
Und er?
Wie immer: Nach einer Sekunde war ich in seinem Würgegriff. Keine Bewegung, kaum Atmung. Gib auf! sagte er.

Also ehrlich! Man fragt sich schon, warum immer die besten Freunde solche Blödiane sind.
Er liess mich los. Wir schwiegen. Zwei Wochen lang. Das tat weh.
Schliesslich ging ich zu ihm und sagte: Tobi sei nicht so verstockt, wir sind doch Freunde?
Der Tobi schaute mich an und sagte dann: Ich werde auf das Galgeli hinaufsteigen.

Das Galgeli war der frühere Galgenhügel bei Ramsei. Auf dem Hügel waren die Leute des Emmentals hingerichtet worden. Da war es keinem von uns geheuer. Es hiess, dass dort ein Mann umgehe, der auf Kinder warte, mit einem Strick um den Hals. Einige sagten, sie hätten ihn sogar gesehen.
Ich sagte zum Tobi: aufs Galgeli? Das ist ja nicht schwer. Da spaziere ich dir vor dem Zmorgen hinauf!
Darauf der Tobi finster: Aber ich werde heute um Mitternacht gehen. Alleine.
Ou! Jetzt kam der mir so! Also sagte ich: Du Schisshaas! Das machst du nie. Du stirbst ja, wenn du nur schon an das Galgeli denkst.
Der Tobi zeigte seinen Dolch: der Beweis, sagte er. Morgen kannst du hinaufsteigen. Dann siehst du den Dolch im Boden des Hügels stecken.
Dann liess er mich stehen. Sein Kinn war gereckt. Aber so gereckt.

Ich stellte den Wecker nachts auf halbzwölf, schlich aus der Wohnung, schnappte das Velo und fuhr los, die Taschenlampe im Sack. Zum Glück war es überhaupt nicht dunkel, wegen des Mondes. Plötzlich entdeckte ich den Tobi! Er fuhr geradewegs in Richtung Galgeli, und ich folgte ihm, mit Sicherheitsabstand. Sein Klappervelo hörte man ziemlich laut, meines war ja tipptopp. Beim Galgeli warf er das Velo hin und kraxelte den Hügel hinauf. Mitten in der Nacht! Ganz allein!
Ich natürlich hinterher! Ich stellte das Velo ab, wieselte zum Fuss des Hügels, sobald der Tobi oben verschwunden war, dann kletterte ich hinauf und beobachtete ihn. Er ging langsam, Schritt für Schritt, schaute sich immer wieder um, dann erreichte er die Stelle, wo früher der Galgen gestanden hatte.
Er duckte sich, hielt einen Dolch in der Faust, Klinge gegen unten, und rammte diesen in den Boden. Dann wollte er aufstehen. Aber ich sah, dass er zurückgerissen wurde. Aus dem Boden zerrte ihn etwas nach unten! Der Tobi schrie laut. Er stemmte sich gegen das, was ihn festhielt. Er schrie wie ein Tier. Mir sträubten sich im Nacken voll die Haare. Ich rannte los.
Endlich war ich bei ihm, packte ihn am Arm, um ihn wegzuziehen. Der Tobi schrie: Lass mich los! Lass mich los!, und ich schrie: Lass ihn los! Lass ihn los! Dann hörte man einen schrecklichen Riss. Der Tobi und ich fielen hintenüber. Wir kreischten, strampelten mit den Beinen, ich hieb mit der Taschenlampe.
Bis wir beide merkten, dass da gar nichts war.

Wir sassen eine Weile ganz nah beieinander, der Tobi und ich. Er sagte: Ich bin fast gestorben vor Schreck. Warum bist du überhaupt da?
Vor uns steckte der Dolch im Boden, ein Fetzen Windjacke daran.

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Sagenstark. Das Gespenst von Mitlödi

Das Gespenst von Mitlödi

Das Ferienhaus meiner Gotte steht in Mitlödi unter der senkrechten Wand des Vorderglärnisch. Meine Gotte meinte, als ich ein Kind war, unter dieser Felswand fühle sie sich sicher. Ich wunderte mich, dass sie sich fürchten konnte, sie war nämlich eine energische Frau.

Ihr Haus ist ein kleines beiges Würfelchen mit einer nett dreinblickenden Augenzahl, jedoch ein wenig einsam inmitten des grünen Hanges. Im Tiefparterre wohnten die Knobels, die ich ins Herz geschlossen hatte, weil sie so schön glarnerten und weil die Frau Knobel so eine helle, lachende Erscheinung war. Merkwürdig fand ich, dass die Knobels im Keller lebten …weiterlesen